Interview mit Prof. Dr. Kittner

Interview mit Prof. Dr. Michael Kittner, emeritierter Professor für Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht, zum Thema: „Die Betriebsverfassung in Deutschland – Ursprünge und Wegmarken“.

1920 – der Anfang von allem?

Das Betriebsrätegesetz von 1920 war nicht der Startschuss für die betriebliche Mitbestimmung in Deutschland. Die Tradition reicht viel weiter zurück. 1849 hatte der Volkswirtschaftliche Ausschuss des Paulskirchenparlaments einen Vorschlag über verpflichtende Arbeiterausschüsse und Arbeitskammern beschlossen, der aber dann vom Plenum nicht aufgegriffen wurde. Noch weiter reicht das Thema aber zurück, wenn man die Anfänge freier Arbeit im Handwerk und im Bergbau betrachtet. Kurz gesagt: In Deutschland gibt es eine lange Tradition in der Organisation und Artikulation von Arbeitnehmerinteressen.

Was waren wichtige Wegmarken auf dem Weg zum Betriebsrätegesetz?

Nach dem vergeblichen Anlauf im Revolutionsparlament der Paulskirche gewährten zunächst aufgeschlossene Unternehmer Mitspracherechte. Danach eröffnete das Arbeiterschutzgesetz von 1891 die Möglichkeit von freiwilligen Arbeiterausschüssen, mit denen Arbeitsordnungen vereinbart werden mussten. Sie wurden zunächst im Bergbau und dann währende des 1. Weltkrieges mit dem „Hilfsdienstegesetz“ von 1916 für kriegswichtige Betriebe verpflichtend. Nach der Novemberrevolution 1918 brachte schließlich das Betriebsrätegesetz von 1920 den Durchbruch zu einer ersten wirklichen Betriebsverfassung.

Was hat sich damit grundsätzlich verändert?

Das Betriebsrätegesetz verschaffte den betrieblichen Interessenvertretungen erstmals gesicherte Organisationsrechte gegenüber dem Arbeitgeber. Die Betriebsräte erhielten Mitspracherechte in praktisch allen betrieblichen Angelegenheiten. Das Ergebnis war deutlich fühlbar: ein größerer Schutz der einzelnen Arbeitnehmer gegenüber der Willkür von Vorgesetzten. Allerdings fehlten immer noch „harte“ Mitbestimmungsrechte in dem Sinne, dass im Streitfall ein neutraler Dritter verbindlich entscheidet.

Wie ging es ab 1945 weiter?

Fast unmittelbar nach dem Ende des NS-Regimes und des Zweiten Weltkriegs gründeten sich zahlreiche Betriebsräte als Ausdruck des Willens zur Schaffung einer universellen Demokratie. Dieses Mal in der Wirtschaft noch vor der Politik. Das BetrVG von 1952 brachte dann ein Stück realer Mitbestimmung, was angesichts des Streits um Aufsichtsratsmandate und paritätische Kammern im öffentlichen Bewusstsein beinahe untergegangen wäre. Das BetrVG 1972 war Ausdruck eines Aufbruchs (Willy Brandt: „Mehr Demokratie wagen“), den es seither so nie wieder gegeben hat.